Abschied von letztem Jahr und von einem kleinen Mädchen

Was mich am Glücklichsten gemacht hat
Meine Familie – mein Freund H. und unsere gemeinsame Tochter A. Die mögen mich, obwohl ich eigentlich nicht besonders nett bin. Dafür sind sie umso netter. Dankeschön.
Und ich muss mir endlich nicht mehr so viele Sorgen darum machen, ob ich als Freiberuflerin später in der Gosse landen werde. Ich habe Halt und Liebe in meinem Leben. Und diese kleine Tochter, die das Größte für mich ist und gerade in meinen Zeichenmaterialien sitzt und alles zerknittert. Wir haben einen Garten, in dem dieses Jahr abertausende Tomaten herangereift sind (ich hatte einen kleinen Zuchterfolg…), und ein Grünkohl, hoch wie eine Palme auf einem spanischen Flughafen. Von meinem Arbeitszimmer kann ich direkt in den Garten sehen und wenn ich will, auch gehen. In der Hecke ist ein kleines Loch: Unser selbstgeschnittener Zugang zum Spielplatz. Da liegt keine einzige Zigarettenkippe herum und auch keine Spritze (ich wohne in Neukölln), aber ganz viel Spielzeug, weil wir uns das mit den Nachbarn teilen, die auch alle Kinder in A.’s Alter haben. Eigentlich teile ich gar nicht, sondern benutze das Zeugs der Nachbarn einfach mit. Ich sagte ja schon, dass ich nicht besonders nett bin. Geizig bin ich also auch.
Die U-Bahn ist nicht weit weg und fährt alle fünf Minuten.
Hermannplatz, Gräfekiez, Weserstraße: 8 Minuten weg.
Kreuzberg: 12 Minuten weg.
Die Nachbarn schenken mir Klamotten und Spielzeug fürs Kind, laden uns zum Waffelessen ein (belgische!), schenken mir gute Bücher, laden uns zu Silvester ein. Die Frauen haben gute Jobs und manche sogar einen guten Humor, die Väter spielen im Sandkasten mit ihren Kindern. Keiner verachtet mich, wenn ich für mein Kind nur Gummibärchen statt Bioapfelschnitze dabei habe.
Ich mag das hier. Ich bin dankbar und glücklich, dass ich so ein behütetes Leben mit meiner Familie führen darf. Ich habe es gut.

Was mich am meisten berührt hat
Die Menschen, die die vielen Flüchtlinge willkommen geheißen haben, die Freiwilligen, die so viel Arbeit und Kraft hineinstecken, damit Menschen, die furchtbare Dinge erleben mussten, hier ankommen können. Bei der Initiative „Kreuzberg hilft“ konnte ich erleben, wie aus dem Wunsch von vier Frauen, etwas zu tun, ein funktionierendes System gebildet wurde, das heute bei der Versorgung von Flüchtlingsheimen hilft, Spenden koordiniert und mit ihrer Aktionsgruppe dafür sorgt, dass Flüchtlinge aus der Tristesse ihrer Massenunterkunft heraus kommen, um ein Konzert zu hören, an einer Kletterwand hochzukraxeln, bei Lebkuchen und Spekulatius Weihnachten mit Blasmusik zu feiern oder mit Berliner Künstlern Stellwände bemalen zu können. Und so vieles mehr. Danke, für diese tolle Arbeit.

Was mich am meisten geschockt hat
Dieser Hass. Der Hass von Menschen, die ihre Energie darauf verwenden, widerliche, manchmal verfassungsfeindliche Kommentare im Internet, vor der Kamera, bei PEGIDA-Demos auszuspucken. „Angst essen Seele auf“ bekommt hier eine ganz andere Bedeutung. Die Angst vor dem Fremden lässt Menschen Mitgefühl und Verstand vergessen. Wenn diese überhaupt vorhanden waren. Es bleibt Härte, Hässlichkeit, Beschränktheit. Der Biedermann ist gefährlich, der Biedermann ist der Brandstifter. „Angst essen Seele auf“ auch bei den Menschen, die hier nach Frieden suchen, nach einem Anfang, wie jeder von uns in ihrer Situation danach suchen würde. Sie können nicht ankommen, wenn wir ihnen nicht die Hand reichen.

Was mich am traurigsten gemacht hat
Der Tod eines kleinen, tapferen, supercoolen, behinderten Mädchens.
Am 30.12.2015 ist Kaiserin1 in den Armen ihrer Eltern gestorben. Vor zwei Monaten ist sie vier geworden. Mareice Kaiser hat so ehrlich, liebevoll, weise über das Leben mit ihrer behinderten Tochter und deren kleinen Schwester auf http://kaiserinnenreich.de gebloggt, dass es uns die Augen und die Herzen geöffnet hat. Wir durften lernen, was es heißt, wenn das eigene Kind nicht der Norm entspricht und dabei die schönsten Sachen kann – lächeln zum Beispiel. Und die wichtigste vielleicht: fühlen: Die Liebe ihrer Eltern, ihrer Schwester. Das Gras auf der Wiese, die Hand in ihrer Hand.
Wir konnten erleben, dass es nicht um Können bei einem Menschen geht, auch nicht um „Hauptsache gesund“. Sondern um „Hauptsache da“. Dieses wunderbare, kleine Mädchen wurde geliebt und hat Liebe gegeben. Mareice hat immer wieder kluge Worte dafür gefunden, wie schwierig, anstrengend, großartig ihr gemeinsames Leben ist. Texte über (Berührungs-)Ängste (Mein Kind, das Gespenst), Ignoranz und fehlendes Verständnis, über verletzende Kommentare und Unbedachtheit im Umgang mit ihrer inklusiven Familie.
Lachen und ärgern durften wir uns über die Schwierigkeiten, einen Kitaplatz zu finden, mit einem Spezialrollstuhl in öffentlichen Verkehrsmitteln durch die Stadt zu reisen, abgelehnte Anträge für nötige Unterstützung bei der Krankenkasse erneut und erneut einzureichen, kafkaeske Telefonate mit Sachbearbeiterinnen zu führen. Und immer wieder teilzunehmen an der schönen Zeit mit ihren beiden Töchtern durch Worte und Bilder. Es war ein Geschenk, das Kaiserinnenreich und ihre Bewohnerinnen kennen zu lernen.
Ich war mir so sicher, dass ich Kaiserin1 endlich in 2016 treffen werde. Ich hatte mich still darauf gefreut, einmal ihre Hand zu halten.
Wir haben sie durch Mareices Texte ins Herz schließen dürfen. Sie fehlt. Am allermeisten ihren Eltern und der kleinen Schwester.
Ich wünsche, dass sie die Liebe und die Freude, die Kaiserin1 geschenkt hat, immer spüren werden. Auch durch den schlimmsten Kummer hindurch.

Elefant

Meine kleine große Schwester

leeres Bettchen3

Heute ist ein besonderer Tag.
Vor genau einundvierzig Jahren starb meine Schwester Barbara. Barbara Juliane. Drei Monate war sie nur alt. Nach der Geburt schien alles in Ordnung, aber mit der Zeit wurde sie immer gelber und gelber. Sie weinte viel, irgendetwas stimmte nicht. Arztbesuche, dann die Gewissheit meiner Eltern. Ihre Leber besaß keine Gänge, konnte den Körper somit nicht entgiften, wie es eine funktionierende Leber so macht. Das Organ war einfach nur ein Klumpen Fleisch, das nichts tat im kleinen hilflosen Körper dieses Babys. Es sah nicht gut aus. Die Ärzte vergaben einen OP-Termin, den 6. November 1974. Das war kein Routine-Eingriff, Gänge in eine Leber zu zaubern, wo vorher keine waren. Stundenlang wurde operiert. Die Vorstellung, dass meine Eltern eine Ewigkeit in einem Krankenhausflur saßen und um ihr todkrankes Kind bangten – unerträglich.
Es war erschöpfend. Nach acht Stunden hat das kleine Herz von Barbara aufgegeben zu schlagen. Sie ist eingeschlafen und nie mehr aufgewacht. So ein winziger, unschuldiger Säugling, die süße kleine Schwester, auf die sich die zwei älteren Brüder so gefreut haben. Das kleine Mädchen nach zwei Jungs, das sich meine Eltern so gewünscht hatten. Die große Schwester, die ich nie haben konnte.
Als meine Mutter dem damaligen Kinderarzt mitteilte, dass Barbara gestorben sei, sagte dieser lapidar: „Naja, Sie haben ja noch zwei!“
Meine Mutter hat mir diese Geschichte so oft erzählt. Dieser dumme Satz hat sie nie losgelassen. Was hat dieser Arzt nur angerichtet. Fährt er einen Porsche? Kann ich einen der Reifen durchstechen, wenn er mitten in der Wüste gestrandet ist? Und sagen: „Naja, Sie haben ja noch drei!“ Das bringt aber nichts und radiert diesen kaltschnäuzigen Satz nicht weg.
Meine Mutter sagte mir mal, wie sehr sich alle während der Schwangerschaft gefreut hätten, wie unbeschwert und fröhlich sie gewesen seien. Das war nun vorbei. Mein ältester Bruder, damals neun, bekam plötzlich schlechte Noten. Nachmittags trottete er zum „Filder-Diskont“ und kam stundenlang nicht wieder; dort stand ein schöner großer Flipper.
Ich kann die Sorgen und die Angst meiner Mutter nur erahnen, als sie nur wenige Monate später mit mir schwanger war. Die Unbeschwertheit war für immer weg. Laut Berechnung wäre ich ein Jahr später am selben Tag wie Barbara zur Welt gekommen. Man half dann im Krankenhaus ein bisschen nach, damit das nicht passierte. Am Geburtstag meiner Schwester denke ich manchmal daran.
Meine liebe Schwester, ich hätte dich so gerne kennengelernt.